Die gesellschaftlichen Strukturen und damit auch die Hotellerie und die Tourismusbranche sind im Wandel. Die grosse Chance der sogenannten «Diversität» hat auch Claude Meier, Direktor HotellerieSuisse, erkannt. Die Branche ist zukunftsorientiert unterwegs: Hier spricht er über das Potenzial der Vielfalt der menschlichen Ressourcen, über die Weiterentwicklung der Berufsbilder in der Branche und über ein Mentoring-Programm für Hotelièren – und notabene die Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Die gesellschaftlichen Strukturen sind im Wandel, so wurde beispielsweise seit dem 1. Juli die «Ehe für alle» offiziell eingeführt. Wo setzen Sie in Ihrer beruflichen Rolle als Direktor des nationalen Arbeitgeberverbandes HotellerieSuisse und Verwaltungsratsmitglied einer grossen internationalen Bildungsinstitution an, wenn es um das Thema «Diversität» geht?
Die Beherbergungswirtschaft heisst in ihren Betrieben Gäste aus allen Kulturen, den unterschiedlichsten Religionen, Menschen sämtlicher geschlechtlicher Identitäten und aus allen Generationen herzlich willkommen. Auch unsere rund 240’000 Mitarbeitenden des schweizerischen Gastgewerbes sind vielfältig: im Vergleich zu anderen Wirtschaftssektoren überdurchschnittlich jung, weiblich und international. «Diversität» ist daher in unserer Branche eine gelebte Realität. Das Gleiche gilt für die weltrenommierte Bildungsinstitution Ecole hôtelière de Lausanne (EHL) Group, deren Stifter und Träger der Branchenverband HotellerieSuisse ist. Die EHL hat Lernende und Studierende im Campus Lausanne/VD und Passugg/GR aus weit über 100 Nationen. Ich bin überzeugt, dass gerade diese Vielfalt noch viel bewusster als Chance erkannt und genutzt werden sollte. Nicht umsonst belegen tausende von Studien, dass gemischte Teams innovativer und erfolgreicher unterwegs sind.
Wie geht eine Branche wie die Schweizerische Hotellerie mit dem Thema «Vielfalt» um, immerhin sind Ihre Gäste aus allen Ländern der Welt, haben die unterschiedlichsten Hautfarben, die unterschiedlichsten Religionen, die unterschiedlichsten sexuellen Orientierungen, die unterschiedlichsten Weltanschauungen?
In der traditionsreichen Schweizer Hotellerie ist die Gastfreundschaft ein tief verankerter Wert. Menschen annehmen, so wie sie sind, gehört zu unserer Branchen-DNA. Meiner Einschätzung nach nutzt die Beherbergungswirtschaft aber das umfassende Potenzial aus der «Vielfalt» unternehmerisch noch zu wenig gezielt. Im Vergleich etwa zu den internationalen Banken- und Versicherungsbranchen, welche schon seit Jahrzehnten Diversitäts-Management betreiben und entsprechend gezielt vielfältige Mitarbeitende ansprechen und zu rekrutieren versuchen. Denn die diversen Mitarbeitenden werden in Zukunft noch viel mehr den eigentlichen «Trumpf» in der individualisierten Gästebetreuung und Gästebegleitung einer hoch technologisierten Gesellschaft ausmachen.
Gibt es hier auch Potenzial für den Schweizerischen Tourismus im Zeitalter des Fachkräftemangels?
Schweiz Tourismus als nationale Tourismus-Vermarktungsorganisation hat nicht zufällig seit rund drei Jahren den Fokus auch gezielt auf das Thema der «Diversität» gelegt. Sie unterstützen verschiedenste Initiativen im Tourismussektor, welche die Diversität fördern, seien dies z.B. gezielte Schulungen touristischer Leistungsträger bezüglich Bedürfnisse eines LGBTQ+-Kundensegments oder mit Aktionen wie der «Woman Peak Challenge» zur Sichtbarmachung von Frauen als Führungskräfte im Tourismussektor. Auch HotellerieSuisse setzt seit Jahren diesbezüglich verschiedene Akzente. So haben wir unter anderem ein Mentoring-Programm für Hotelièren im Verband aufgebaut, welches Frauen ganz gezielt die strategische Verbandstätigkeit näherbringt. Dass wir in 140 Jahren Verbandsgeschichte erst drei Frauen im siebenköpfigen strategischen Organ von HotellerieSuisse zählten, ist definitiv Geschichte. Im November kandidieren für zwei offene Sitze erstmals gleich acht Persönlichkeiten, darunter gar sechs Frauen. Dieses symbolische Signal hat Ausstrahlungskraft in die gesamte Hotellerie: wir brauchen sämtliche Kräfte und Potentiale für unsere Branche, um diese nachhaltig und innovativ weiterentwickeln zu können. Es freut mich auch, dass die Delegiertenversammlung von HotellerieSuisse einen weiteren klaren Entscheid fällte: 2023 soll explizit ein Sitz für eine Junghotelière oder einen Junghotelier jünger als 35-jährig im strategischen Organ geschaffen werden. Ziel hierbei ist, dass die Branche die Bedürfnisse aus dem Blickwinkel der jüngeren Generation noch besser in die Branchenweiterentwicklung miteinbezieht.
Kommen wir noch zum Wandel in der Branche: In der Gastronomie fehlen mehr denn je die Fachkräfte. Wohin sind die alle verschwunden?
Also ehrlich, ich weiss es nicht. Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es ein «schwarzes Loch» im Universum, welches zurzeit massenhaft Arbeitskräfte aus der Schweiz respektive Europa absaugt. Aber ernsthaft, wenn ich mich in KMU-Kreisen und unter Arbeitgebern herumhöre, dann klagen alle über fehlende Arbeitskräfte – vom Gesundheitswesen bis hin zum Detailhandel, von den Lehrpersonen bis zu den Lastwagenchauffeuren. Und dies ist auch nicht nur in der Schweiz so. Im Rahmen eines Treffens der deutschsprachigen Verbände aus der Hotellerie und Gastronomie erzählten die Branchenvertreter aus Luxemburg, Südtirol, Lichtenstein, Österreich und Deutschland unlängst unisono vom gleichen Phänomen. Vor allem ist klarzustellen, dass wir nicht nur von einem Mangel an ausgebildeten Fachkräften sprechen, sondern generell von einem Mangel an Arbeitskräften.
Wie gehen Sie mit der Situation um?
Strukturell zeichnet sich der Fachkräftemangel ja schon seit einem Jahrzehnt in ganz Europa ab. Einer der Haupttreiber ist ein simpler: die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung Europas wird kontinuierlich höher, das Rentenalter verharrt plus minus und damit wird der Produktionsfaktor Arbeit in ganz Europa immer wie geringer. Weniger Menschen im Arbeitsprozess, deutlich mehr Menschen im Pensionsalter. Wenn wir gesellschaftliche Antworten hierauf geben wollen, müssen wir unter anderem dringend über nötige Reformen im Bereich der Sozialversicherungen sowie der Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik aus Drittstaaten sprechen. HotellerieSuisse macht als Branchenverband selbst aber seine Hausaufgaben. Wir integrieren unsere eigenen drei Schulhotels in Interlaken/BE, Martigny/VS und Pontresina/GR zusammen mit unserer Hotelfachschule Thun/BE und der Ecole hôtelière de Lausanne (EHL) Group zu einem einmaligen Bildungsanbieter für die Hospitality-Branche, welche Bildungsabschlüsse von der beruflichen Grundbildung, über die höhere Berufsbildung bis zum Fachhochschulabschluss durchlässig anbieten kann. Weiter wollen wir unsere Rolle als Verband bei der Erarbeitung und Weiterentwicklung der Berufsbilder in unserer Branche weiter stärken und fokussieren. Auch über die Sozialpartnerschaft fördern wir das lebenslange Lernen unserer Mitarbeitenden in den zahlreichen Beherbergungsbetrieben aktiv. In den vergangenen zwei Jahren haben wir zudem ein Coaching-Angebot für unsere Hoteldirektorinnen und Hoteldirektoren aufgebaut, welche diese beim Transformationsprozess ihrer Betriebe unterstützt. Wichtig erscheint mir auch unser Engagement mit dem Projekt «Top Ausbildungsbetriebe», in welchem wir Berufsbildungsverantwortliche unserer Betriebe weiter stärken, damit sie in der Ausbildungsqualität der Lehrbetriebe weitere Fortschritte erzielen können.
Welche Chancen geben Sie der Vier-Tage-Woche, von der immer öfter zu lesen ist?
Unternehmen habe sich den gesellschaftlichen Bedürfnissen und dem Wertewandel anzupassen, wenn sie denn weiter erfolgreich auf dem Markt tätig sein wollen. Daher halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass auch KMU-Unternehmen ihre gängigen Arbeitszeitmodelle überprüfen und neue Modelle ausprobieren. Dies kann die Vier-Tage-Woche sein, aber auch Jahresarbeitszeit- und Gleitzeitmodelle sowie viele andere Möglichkeiten. Wer nichts Neues wagt, wird als Unternehmerin und Unternehmer schnell mal von Mitbewerbern und der Attraktivität anderer Branchen überflügelt. Was in Betrieben versucht wird, ist hingegen in der Politik schon lange blockiert – mehr Flexibilität und Modernisierungen im Arbeitsrecht. Unser geltendes Arbeitsrecht kommt aus dem Zeitalter der Industrialisierung und ist längst überholt. Politisch mangelt es aber an einer genügend grossen und breiten Allianz, welche notwendige Veränderungen endlich im Interesse von Arbeitnehmenden wie Arbeitgebern realisieren.
Was sind die massivsten Veränderungen in Ihrer Branche in den nächsten zehn Jahren?
Die Digitalisierung ist weiter voranzutreiben, um gerade auch dem Mangel an Arbeitskräften mittels technologischer Automatisierungsprozesse entgegenwirken zu können. Weiter investieren wir innerhalb der Hotellerie und Parahotellerie viel in die Entwicklung eines nachhaltigeren Tourismus. Entscheidend ist zudem das künftige wirtschaftliche Umfeld für unsere KMU-Betriebe: globale Lieferengpässe tangieren unsere Unternehmen bei Aus- und Umbauten, drohende Energieverknappungen und explodierende Energiekosten verteuern unsere Produkte massiv, hohe Inflationsraten in den europäischen Nah- wie den touristisch relevanten Fernmärkten wie etwa der USA gefährden unsere Wettbewerbskraft, geopolitische Krisenherde und Kriege Mitten in Europa sind humanitäre Katastrophen, welche den Kernwerten der «Gastfreundschaft» unserer Branche zutiefst zuwiderlaufen. An Herausforderungen mangelt es folglich nicht.
Interview: Corinne Remund